Kurzgeschichte: Erster Alles


Erster Alles
Von Axel Baumgart

Als ich ein Kind war, spielten wir Fußball auf der Straße oder im Park, wenn wir von dort nicht vertrieben wurden. Beide Plätze hatten eines gemeinsam: Es gab kein richtiges Spielfeld. Nur zwei Tore. Wir spielten nach ganz einfachen Regeln:

Foul war, wenn einer laut „Aua“ sagte, und Weicheier durften nicht mitspielen. Torwart gab es keinen. Wer der letzte Mann seiner Mannschaft war, rief laut „Letzter Mann“ und durfte dann den Ball mit der Hand abwehren. Weil wir keinen Strafraum hatten, gab es nach einem Foul auch nie einen Elfmeter, sondern nur einen Freistoß. Seiten- und Torauslinien hatten wir nicht, folglich auch keine Ecken. Daraus ergab sich eine ganz simple Regel: Wenn es für eine der beiden Mannschaften eine bestimmt Anzahl Ecken hätte geben müssen, gab es stattdessen einen Elfmeter. Die Regel wurde für beide Mannschaften verbindlich von demjenigen bestimmt, der sie als erster laut ausrief: „Drei Ecken ’en Elfer!“ Damit war dann klar, nach jeweils drei nicht ausgeführten Eckstößen gab es einen Straftstoß.

Natürlich war es immer Niklas, der die Regel bestimmte. Niklas war sowieso unser „Erster Alles“. Ich weiß nicht, ob es an der fehlenden Fußballbegeisterung liegt, oder an der Tatsache, dass sie nicht aus dem Rheinland kommen. Auf jeden Fall kannten Freunde von mir diesen Begriff nicht, weshalb ich ihn kurz erklären möchte: Im Straßenfußball, wo es keine feste Mannschaften mit gewachsenen Hierarchien gibt, muß man die Frage, wer der „Chef“ auf dem Platz ist, anders regeln. Wer darf den ersten Freistoß schießen, wer den ersten Elfmeter? Die Lösung muss einfach sein, Diskussionen halten nur von Spiel ab. Wer in seiner Mannschaft als erster „Erster Alles“ rief, hatte damit diese Rechte für dieses Spiel erworben. Ohne Diskussion. Wer zuerst kommt, malt zuerst. Ich kann mich an kein Spiel erinnern, bei dem Niklas nicht „Erster Alles“ seiner Mannschaft gewesen wäre.

Niklas war immer schon ein toller Typ, mein bester Freund. Nur etwas cleverer und schneller als wir anderen eben. Als wir nicht mehr Fußball auf der Straße spielten, ging der Kontakt zu den meisten verloren. Zu Niklas blieb er bestehen. Und Niklas blieb „Erster Alles“. Was auch immer wir uns vornahmen, er erreichte es als erster. Ich erinnere mich noch genau, wie sein Sohn geboren wurde. Er rief mich um 03:30 Uhr in der Nacht an, sagte nur zwei Worte und legte dann wieder auf: „Erster Alles.“ Nur diese beiden Worte.

Irgendwann habe den Versuch aufgegeben, auch einmal „Erster Alles“ zu sein. Niklas arbeitet jetzt in Australien. Seine Firma hat ihm einen Traumjob angeboten, bei dem er nicht ablehnen konnte. Unnötig zu erwähnen, dass er der erste aus dem Freundes- und Bekanntenkreis war, der Karriere machte. Wir haben uns nun schon neun Monate nicht mehr gesehen. Aber gestern, zu seinem 35. Geburtstag, haben wir lange telefoniert. Dabei hat er mir erzählt, dass er sich scheiden lassen will. Er hat gefragt, wie es mir geht, was es so neues gibt. Ich fand die Gelegenheit aber unpassend. Darum schreibe ich ihm heute diesen Brief. Die Ärzte geben mir noch drei Wochen, bestenfalls einen Monat. Nichts mehr zu machen. In meinem Brief an Niklas stehen nur zwei Worte.

 


 

10 Responses to Kurzgeschichte: Erster Alles

  1. MAIK sagt:

    Oh Mann, hab ganz schön geschluckt am Ende. Damit hatte ich so gar nicht gerechnet. Überigens, den Ausdruck Erster Alles kenne ich auch nicht.

  2. Fatma sagt:

    Man man, das Ende bringt einen echt zum schlucken. Eine wirklich traurige, aber sehr schöne Geschichte… „Erster Alles“ (höre ich auch zum ersten Mal)

  3. Axel Baumgart sagt:

    Hallo Maik,

    Danke für Deinen Kommentar. Ja, das Ende sollte auch überraschend kommen.

    Hallo Fatma,

    ich bin freudig überrascht, dass Du Dich auf meinen Blog verirrt hast. (Ich gehe davon aus, dass Du die Fatma bist, die ich meine (ich kenn nur eine …)).

    Axel

  4. Udo sagt:

    Hallo Axel,
    die Geschichte hat mich sehr berührt. Wenn ich früher mal auf deine Seite geschaut hätte, hätte sie im Gottesdienst gestern (Karfreitag) – eine Rolle gespielt, aber vielleicht baue ich sie ja noch für morgen in die Predigt für Ostern ein, denn da geht es ja auch um einen „Erster Alles“ – wenn auch ganz anders…

    Liebe Grüße

    Udo

  5. Axel Baumgart sagt:

    Hallo Udo,

    es freut mich, wenn meine Geschichten berühren können und ich sie nicht nur für mich schreibe. Auf meinem Blog sind (neben vielen, eher Tagebuchmäßigen Einträgen) nur Geschichten für „größere Kinder“, teilweise auch mit ernsten Themen.

    Beste Grüße
    Axel

  6. Michael Gauber sagt:

    Warum nur Geschichten für größere Kinder? http://www.levrai.de Die Welt ist groß.

  7. Axel Baumgart sagt:

    Hallo Michael,

    ich will die Frage auf folgende Weise beantworten: Für „größere Kinder“ als Abgrenzung zu meinen Geschichten für kleine Kinder, die ich unter

    http://www.axel-baumgart.de

    im Internet habe. Ich denke, dass – wenn man die Geschichten vergleicht – die „Kinder“ für die sie geschrieben sind, durchaus unterschiedlicher Alterstufen sind, wobei ich bei „größere Kinder“ (deshalb auch die „“) natürlich auch die Erwachsenen einschließe.

    Oder hatte ich die Frage gründlich mißverstanden und schieße mit der Antwort über das Ziel hinaus?

  8. Carsten sagt:

    Hallo Axel,

    schluck! Ich hatte beim Lesen der Geschichte den Eindruck, dass sie sehr autobiographisch wäre und ein völlig anderes Ende erwartet. Hoffe, dir geht es noch lange gut!

    Carsten (vom MB)

  9. Axel Baumgart sagt:

    Hallo Carsten,

    Vielen Dank für Deinen Besuch. Schön, dass die Geschichte so real wirkt. Bis auf den Begriff „Erster Alles“ und seine Bedeutung im Straßenfußball ist sie wirklich erfunden. Ich selber habe aber nie Straßenfußball gespielt.

    Und keine Grund zur Sorge: Mir geht es wirklich gut.

    Beste Grüße
    Axel

  10. Klara59 sagt:

    Wenn Geschichten berühren können und man sie nicht nur für sich schreibt. Auf meinem Blog sind (neben vielen, eher Tagebuchmäßigen Einträgen) nur Geschichten, Gedichte, Gemälde, Kurzgeschichten, vor allem aber Gedichte, auf http://www.levrai.de/gedichte/gedichte_uebersicht.htm für alle, auch mit ernsten Themen.

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